Die Zürcher Prozesse
Seit 80 Jahren ist sie aus dem Schweizer Journalismus nicht mehr wegzudenken: An der Schweizer Wochenzeitung „Weltwoche“ scheiden sich die Geister, insbesondere seit 2001 Roger Köppel als neuer Chefredaktor das Blatt politisch um 180 Grad drehte. Für die einen ist die „Weltwoche“ die letzte Bastion gegen den linken Mainstream, für die anderen ein verfassungsfeindliches Hetzblatt und verkapptes Parteiorgan der SVP, das man vernünftigerweise mit Nichtbeachtung strafen sollte. Und jenseits Schweizer Grenzen staunt man, teils unverhohlen schockiert, teils unverhohlen beeindruckt, welche Themen und Thesen da offen verhandelt werden.
Milo Rau – „Hate Radio“, „Breiviks Erklärung“ – macht nun der „Weltwoche“ auf der Theaterbühne den Prozess. Nach den „Moskauer Prozessen“ (1.-3. März 2013, Sacharow- Zentrum Moskau) sind die „Zürcher Prozesse“ das zweite an einen Gerichtsprozess angelegte Diskussions-Format des Schweizer Regisseurs. Theater und Gericht stellen als kathartische Medien die Frage nach der Funktion von Journalismus in einer modernen, westeuropäischen Gesellschaft. Es steht Grundrecht gegen Grundrecht, die Pressefreiheit gegen den Schutz von Minderheiten in einem freiheitlichen Staat wie der Schweiz. Vor einer repräsentativ ausgewählten Jury verhören echte Anwälte echte Zeugen und Experten, im Rückgriff auf reale Straftatsbestände der Schweizer Rechtsordnung. Die Anklage lautet auf Verletzung von Art. 258 (Schreckung der Bevölkerung), Art. 261 bis (Diskriminierung) und Art. 275 (Gefährdung der verfassungsmässigen Ordnung). Ein Prozess mit offenem Ausgang, durchgeführt mit der Unmittelbarkeit von Schöffengerichten und dem Pathos amerikanischer Gerichtsfilme.
In den Zeugenstand tritt ein Figurenkabinett der Schweizer (medialen) Realität der letzten zwei Dekaden. Nicht nur renommierte Experten aus Politik und Journalismus werden berufen, sondern auch die Typen und Persönlichkeiten, die Protagonisten jenes Schweiz- und Europabildes, das die „Weltwoche“ seinen Lesern Ausgabe für Ausgabe präsentiert. Existieren die in der „Weltwoche“ skizzierten Zustände tatsächlich – und seit wann? Was ist mit der Schweiz geschehen zwischen der Fast-Abschaffung der Armee 1989 und der Minarettiniative zwanzig Jahre später? Was ist dieser „Weltwoche“-Kosmos eigentlich konkret, und kann er einem öffentlich geführten Kreuzverhör standhalten? Gibt es den IV- Betrüger, den Subventions-Abzocker, den „Realisten“ (der mal links war, bevor er gemerkt hat, wie es eben „wirklich“ läuft), den machthungrigen und intoleranten Imam, den elitären, die Basis verachtenden Cüplisozialisten, den weltfremden altlinken Professor und den „hässlichen, lauten Deutschen“, der immer gleich den Faschismusvergleich auspackt, wenn jemand nicht seiner Meinung ist? Wird die Schweiz schwulisiert und von einer korrupten Classe Politique verraten und verkauft? Was wird uns vom übertoleranten, moralinsauren, linksalternativen Mainstream verheimlicht?
Und wie steht es, auf der anderen Seite, um jene „finsteren Financiers“ hinter der „Weltwoche“, existiert diese viel beschworene, je nach Sichtweise un- oder urschweizerische Allianz aus Journalisten, Politikern und Grossunternehmern überhaupt – und wenn ja, zu welchem Zweck? Was ist eigentlich diese „Wirklichkeit“, von der die „Weltwoche“ sagt, es sei ihr „Geschäftsmodell“? Handelt es sich dabei um zynisch verdrehte Fakten, anhand derer die Schweizer Bevölkerung passend zum jeweiligen Wahlkampfthema knapp rechts an der Schweizer Verfassung vorbei gelotst wird? Oder eben doch um beinhart betriebenen Investigationsjournalismus, der auf überholte Denkverbote und die Sensibilitären selbsternannter Minderheiten keine Rücksicht nimmt?
„Die Zürcher Prozesse“ nehmen die Debatte um die umstrittenste Zeitschrift der Schweizer Pressegeschichte zum Anlass, die Akteurinnen und Akteure einer Gesellschaft im Umbruch auf die Bühne zu bringen – ein Pandämonium der Meinungen, eine Comédie Humaine der Schweiz, ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen – ein Schau-Prozess mit unvorhersehbarem Verlauf.