Rolf Bossart: Da chönt nach hine loos goh!
Die Zürcher Prozesse sollen ein Panoptikum der Schweiz der letzten zwanzig Jahre zeigen. Von der EWR-Abstimmung über die Minarett Initiative bis heute. Zu diesem Zweck sind wir mit Dutzenden, ja eigentlich Hunderten von Leuten in Kontakt getreten und haben sie eingeladen, dabei zu sein. Und wie Milo Rau bereits zur Entstehungsgeschichte der Moskauer Prozesse zu Protokoll gegeben hat, gab es auch hier nebst vielen spontanen Zusagen viele Absagen, viele Zusagen, die zu Absagen wurden und viele Absagen, die zu Zusagen wurden. Aus den vielfältigsten Motiven möchte ich vor allem zwei signifikante und immer wiederkehrende herausgreifen.
Auffallend war, wie viele Leute davon überzeugt waren, dass sie in der Weltwoche an den Pranger kämen, sobald sie bei den Zürcher Prozessen mitmachten. Trotz unserer beschwichtigenden Worte mussten wir immer wieder feststellen: Diese Angst entsprang keiner wagen Befürchtung, sondern es war so etwas wie Gewissheit. Die einen hat dies wohl zur Absage bewogen, die anderen sagten trotzdem zu. Soviel zur emotionalen Besetzung des Themas bei den Protagonistinnen und Protagonisten.
Eine zweite Beobachtung. Es handelt sich dabei quasi um den Schweizer Klassiker unter den Reaktionen auf die Ankündigung eines Wagnisses: „Au pass uuf, da chönt nach hine loos goh.“ In verschiedensten Varianten wurde diese Angst vorgebracht, oft verbunden mit einer Erörterung, warum die Rechten bei solchen Sachen immer gewinnen.
Doch eigentlich ist diese permanente Angst, dass irgendetwas „nach hinten losgehen könnte“, ein grosses Rätsel. Es muss irgendwie mit der Söldnervergangenheit in diesem Land zu tun haben: Die Angst des Kanoniers beim Zünden der Lunte. Vielleicht liegt das Problem auch darin, dass bei vielen oft eine grosse Ignoranz herrscht gegenüber den Faszinationskräften, die die Leute an rechte Diskurse binden. Denn es geht nicht um Hirngespinste, sondern um reale Motive. Und angeboten werden reale Lösungen. Die meisten werden nicht verführt, sie entscheiden sich willentlich dazu, einer beispielsweise national-konservativen Position zu folgen. Wer sie zurück gewinnen will, braucht nicht nur bessere Argumente, sondern den besseren Glauben oder das grössere Engagement. Das heisst, man braucht Konfrontation statt Ignoranz.
Wer Anfang Mai im Neumarkttheater gewinnt, ist zweitrangig. Im besten Fall kann man zwei Überzeugungen an der Arbeit sehen und erkennen, dass keine totzukriegen ist, weil beide eine reale Basis haben. Das bedeutet für diesen Prozess, dass es nicht um das Vertreten von Meinungen geht, sondern darum, die Meinungen in ihrer Entfaltung zu zeigen. Das wahre Drama, sagt Hegel, zeigt nicht die Durchsetzung einer guten Meinung gegen eine schlechte, sondern es zeigt zwei Standpunkte, die im Clinch liegen und sich gegenseitig nicht aufheben können. Interessant auf der Bühne ist dieser Kampf – und den kann der Rechtsstaat nur in den seltensten Fällen zeigen.