Rolf Bossart: Die Herrschaft der Fakten
Constantin Seibt, Tages Anzeiger- und ehemaliger WoZ -Journalist , hat Mitte November 2012 bei einer geschlossenen Veranstaltung der Medienvielfalt Holding AG (der Besitzerin der Basler Zeitung) einen Vortrag gehalten zur Rolle der Medien in der Demokratie und auf seinem Blog veröffentlicht. Seibt nahm kein Blatt vor den Mund. Er empfahl der Weltwoche und der Basler Zeitung, den Betrieb einzustellen, da ihre Ziele wie Deregulierung und Stärkung von finanzkräftigen Individuen mit einer starken Rechtspresse gut, mit gänzlich uninformierten Leuten aber noch besser zu erreichen sei. Er warf der Weltwoche vor, zu einem Glaubensblatt geworden zu sein, das den kritischen Journalismus, der auf der Basis von Fakten operiert, ersetzt hat durch die dogmatische Methode der konstanten Verkündigung des Gegenteils eines durch die Weltwoche definierten Mainstreams.
Roger Köppel hat Seibt im Tages Anzeiger geantwortet und darauf bestanden, dass die Weltwoche streng auf Fakten setze, indem sie blinde Flecken im ideologisch gefärbten Mainstream-Denken, „unter dem ich die zufällig von einer Mehrheit der Journalisten für wahr gehaltene Beschreibung aktueller Themen verstehe“, aufdecke, wohingegen gerade Seibt ein reiner Meinungsschreiber sei.
Hat Köppel damit nicht prinzipiell recht? Ist es nicht tatsächlich so, dass sich die Weltwoche viel eher auf Fakten stützen kann als beispielsweise die WoZ oder irgendein anderes Medium, das von sich behauptet, der Herrschaft gegenüber kritisch zu sein? Denn das, was herrscht, sind immer die Fakten. Der Gegner des linken Journalisten ist die Herrschaft des Faktischen. Das heisst, die Fakten sind a priori mit der Rechten und die Linke ist darauf angewiesen kontrafaktisch zu denken. Doch noch in einem zweiten Sinn liegt Köppel mit seiner Insistenz auf das Faktische richtig. Der sogenannte Mainstream, gegen den seine Zeitung anschreibt, ist nichts anderes als eine Art Stream of consciousness jener Vernunftvariante, die der bürgerliche Humanismus in den letzten fünfhundert Jahren hervorgebracht und die sich in vielen liberalen Presseerzeugnissen erstaunlicherweise und zugleich nützlich gehalten hat. Gemessen an den Realitäten des Raubtierkapitalismus war und ist dies aber eine eher idealistische Angelegenheit, wohingegen der stream of unconsciousness des „Volksempfindens“, in den sich die Weltwoche stattdessen einschreibt, viel eher eine reale Basis hat. Denn der sich ohne alle Arbeit des Begriffs entfaltende gesunde Menschenverstand liefert die Fakten für Köppels Journalismus aus praktischer Anschauung. Wie leicht im eigenen Weltbild jener ein Betrüger, diese eine Verräterin und das Establishment zu verachten ist, weiss jeder, der sich selber ein wenig ehrlich erforscht und die eigenen spontanen Regungen auch als Teil von kollektiven Denkgewohnheiten lesen mag. Dass Misstrauen und die Skepsis , die Köppel, dem Journalismus verschreibt, hätte vor allem ein Misstrauen gegen sich selber zu sein, um sich das Ressentiment zu verbitten, das einem aus der Faktenlage entgegentritt. Der kritische Journalismus lässt nicht die Fakten sprechen, sondern ringt, was er zu sagen hat, ihnen ab. Er spannt wie Zizek sagen würde, die Fakten auf die Folter und vertritt das „Geständnis“, das ihm auf diese Weise zufällt, als persönliche Erkenntnis. Das ist wohl der Vorgang, den Seibt meint, wenn er am Anfang seiner Rede etwas unvermittelt das Hohe Lied auf den einsamen Journalisten als singuläres Individuum anstimmt, dem die Wahrheit in seiner Kammer ekstatisch geschenkt wird. In Seibts Texten finden sich immer wieder Spuren davon: „Denn bei den spektakuläreren Momenten des Schreibens, den Momenten der Erkenntnis, des Zorns, des Witzes ist man ganz bei sich und das ist gut so.“ Die heroische Einsamkeit als Folge der Verkündigung der Wahrheit gegen den Mainstream, mit der Köppel kokettiert, fungiert hier umgekehrt als Voraussetzung für die Wahrheitsfindung.
Roger Köppel verkennt, wen er vor sich hat. Er liest Seibt nicht genau genug, wenn er in dieser Debatte Fakten gegen Meinung stellt. Besser passen würde subjektiv gegen objektiv in jenem verdrehten Sinn, den Adorno in den beiden Begriffen fand: „Die Begriffe des Subjektiven und Objektiven haben sich völlig verkehrt. Objektiv heisst die nicht kontroverse Seite der Erscheinung (…) die aus klassifizierten Daten gefügte Fassade, also das Subjektive“, beziehungsweise in Köppels Terminologie die Fakten, „und subjektiv nennen sie, was (…) in die spezifische Erfahrung der Sache eintritt (…)und die Beziehung auf den Gegenstand anstelle des Majoritätsbeschlusses derer setzt, die ihn nicht einmal anschauen, geschweige denken – also das Objektive“, bei Köppel die Meinung. Und daher gleichen die Fakten, mit denen die Weltwoche hausieren geht, dem, was der Kleinbürger Erfahrung nennt, nämlich das, was ihm ständig widerfährt und das er, weil er es nicht ändern kann, als einzige Wirklichkeit gutheisst.
Köppel ist zu klug, um an seine eigenen Ressentiments zu glauben. Doch indem er der sogenannt schweigenden Mehrheit, für die er zu sprechen meint, diesen Glauben unterstellt und als Rückversicherung für seine Behauptungen einsetzt, ereilt ihn das Schicksal jedes Zynikers. Weil er selber nichts zu vertreten hat, tritt oder vertritt er wahlweise die Sache anderer. Seine methodische Indifferenz ist die indifferente Methode des Herrschenden. Den Spot über die nutzlosen Illusionen der Linken erkauft er sich mit dem Kältestrom reiner Faktizität, welche im mythischen Zeitalter der Wille des Schicksals, im faschistischen der Wille der Eingeborenen, im kapitalistischen die Kosten-Nutzen Rechnung ist und heute natürlich von allem etwas. Weil der Zyniker sich nicht das Ressentiment verbietet, sondern die Hoffnung, es durch denken zu überwinden, hält er alle Versuche der Menschen, ihr Dasein mit Würde aufzubessern und ihre Welt unter ethischen Gesichtspunkten zu betrachten, für schändliche Lüge und pflegt stattdessen den Jargon der Eigentlichkeit. Der Arme ist eigentlich ein Schmarotzer, die Sozialarbeiterin eine dümmliche Narzisstin, die aufgerissene Einkommensschere, eine Zunahme des durchschnittlichen Reichtums. Köppels Weltwoche hat in diesem Sinn nur kalte Fakten zu bieten, das heisst solche, die dem Status quo dienen, wenn auch gut verpackt im heissen Kokon der Wut auf die sogenannten Hüter des gesellschaftlich noch vorhandenen Triebverzichts.
Dass die Weltwoche dennoch ab und zu zur Faktenverdrehung greifen muss, ist ihre Schwäche, die zugleich die Lücke im System der Herrschaft des Faktischen ist. Das heisst, wo der objektive Geist sich nicht selbstverständlich als ein solcher verkaufen kann, sondern als ideologische Konstruktion sichtbar wird, hat das Blatt ein Problem. Die Langeweile, von der Seibt spricht, ist keine ideologische Phrase, sondern das Gefühl, das die hier zu Tage tretende Angestrengtheit, verbreitet. Anders gesagt, wenn Seibt, der tatsächlich auf Erkenntnis und Erfahrung aus ist, sich langweilt, dann ist die Faktenlage für die Weltwoche schlecht. Seibt, selber so wenig ideologisch wie Köppel, selber zuweilen auf dem Grat zwischen Ekstase und Zynismus, und daher wohl (wie ich selber) auch nicht ganz ohne Anerkennung für die kühle Brise und die gute Laune, die in der Weltwoche aufscheint, hat offensichtlich in den eloquenten und mit der weltläufigen Lust des bad guys präsentierten Texten Köppels etwas Entscheidendes nicht gefunden. Es ist wohl dasselbe, was ihn in absoluter Form beim Chefredakteur der Basler Zeitung, Markus Somm, den er einen Prediger nennt, abstösst: Eine existentielle Involviertheit in die Sache, die weder wie Somm die Ratio an den puren Glauben verrät, noch wie Köppel den Glauben an die pure Ratio.
Wenn in Köppels Antwort schliesslich eine gewisse Kränkung nicht zu übersehen ist, könnte das damit zu tun haben, dass seine Achtung, die er zweifellos vor Seibt hat, nicht wie erwartet hinter vorgehaltener Hand quittiert, sondern mit dieser Rede in einem öffentlichen Befreiungsschlag zurückgewiesen wurde.
Rolf Bossart, Publizist und Dozent, ist Berater des IIPM für u. a. die “Zürcher Prozesse”.