Rolf Bossart: Was ist eigentlich ein Liberalfaschist?
Wie man bei den “Moskauer Prozessen” – dem Vorgängerformat zu den “Zürcher Prozessen” – erfahren konnte, werden in Russland Leute, die auf westliche Bürgerrechte wie Pressefreiheit, Freiheit der Künste und Meinungsfreiheit pochen, allen Ernstes als Liberalfaschisten bezeichnet. Dies ist zwar in der historisch bestimmten Variante, wie Faschismus hierzulande gebraucht wird, total unlogisch, hat aber trotzdem eine Logik. Wenn Faschismus etwas zu tun hat mit der Diktatur der Mehrheit gegen eine Minderheit oder mit der biologisch legitimierten Rücksichtslosigkeit des Stärkeren gegen den Schwächeren, dann ist er universal verwendbar. Für den von allen Segnungen westlicher Kultur abgeschnittenen russischen Landbewohner, der sich innerhalb eines von Zerfall bedrohten Landes den bewährten Institutionen Staat und Kirche anvertraut, ist es beispielsweise plausibel, wenn das, was sein Land im „Grossen Vaterländischen Krieg“ bedrohte, der Faschismus, und das, was sein Land seit 1991 bedroht, der Liberalismus, irgendwie zusammen gehören.
Dass die Faschisten eher in ihren eigenen Reihen zu finden wären und die Liberalen in Russland eine unglaublich kleine Minderheit sind, spielt dabei keine Rolle. Denn Minderheit und Mehrheit sind, wie man weiss, keine numerischen Kategorien. Wer glaubt, sich wehren zu müssen, ist immer in der Minderheit. Minderheit sein ist daher eine ganz und gar objektive Kategorie genauso wie Schuld in den Schauprozessen unter Stalin. Die Angeklagten konnten sich noch so anstrengen, ihre subjektive Unschuld zu beweisen, sie waren in der herrschenden kommunistischen Unlogik immer schon schuldig. Genauso sinnlos ist es, den gefühlten Minderheiten beweisen zu wollen, dass sie eigentlich in der Mehrheit sind und sie es sind, die den Bär tanzen lassen. Denn wie im Schauprozess gerade die stichhaltigsten Beweise für die Unschuld des Angeklagten umso sicherer seine Beteiligung an der grossen Verschwörung bestätigten, so kann in der Logik der gefühlten Minderheit ja nur eine Mehrheit so mächtig sein, die Fakten so zu drehen, dass sie selber als verfolgte Minderheit erscheint. Dies erklärt einerseits, weshalb es mit dem so hochgelobten Minderheitenschutz in der Demokratie eine so vertrackte Sache ist; und andererseits wie es dazu kommen kann, dass beispielsweise eine einflussreiche Zeitung wie die “Weltwoche” sich als Minderheit in einem von ihr ausgerufenen linken Medienmainstream sieht und es sich gleichzeitig zur Aufgabe gemacht hat, andere Minderheiten zu dekonstruieren.
Und der Liberalfaschismus? Die Liberalen würden sagen: „Die Welt steht dir offen. Du hast genug Möglichkeiten, Mehrheiten zu schmieden und dich an Mehrheiten anzuschliessen. Aufklärung ist der Ausgang aus der selbstverschuldeten Minderheit.“ Die Faschisten würden sagen: „So ist eben die Welt, das sind die Fakten, die einen gewinnen und die anderen verlieren, keiner kann anders als er ist.“ Diejenigen aber, die Ersteres zu den Losern sagen und Letzteres für sich selber glauben, wären nach der universalen Logik Schewtschenkos die Liberalfaschisten.
Schewtschenko würde das wahrscheinlich kaum so sagen, dafür die westliche Liberalismuskritik. Nur die Logik ist dieselbe. Ist das nun ein Sieg für die “Weltwoche”?
Rolf Bossart, Publizist und Dozent, ist Berater des IIPM für u. a. die “Zürcher Prozesse”. Zum Begriff des Faschismus vgl. auch den Essay “Nachmittag eines Linksfaschisten”, zum Begriff des “Liberalfaschismus” speziell das Deutschlandfunk-Hörspiel “Russische Kulturkämpfe”.